The taste hunter.

Der Kopf isst mit! Für Jozef Youssef, Sternekoch und Gründer des unkonventionellen Londoner Gastronomielabors und Think Tanks „Kitchen Theory“, macht erst ein Menü, das alle Sinne anspricht, den rundum guten Geschmack. Seine wissenschaftlichen Studien zur Geschmackswahrnehmung bringen Erkenntnisse zur Gastrophysik, die auch für Produktdesigner interessant sind. Denn wie muss ein Teller aussehen, um Speisen optimal erlebbar zu machen? Über seine essbaren Experimente im Design-Laborrestaurant „Chef’s Table“ und die Angst, Scherben zu essen, spricht der Geschmacksjäger im Interview.

 

Kann man ein Essen mit Sound-Effekten „würzen“? Wie steuern Farben und Tellerform die Erwartungen an ein Gericht? In seinem experimentellen Restaurant „Chef’s Table“ im Norden Londons gewinnt Food-Experte Jozef Youssef spannende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Gastrophysik. Gäste begeben sich dort auf eine 10-gängige Geschmacksreise durch ein komplett nach multisensorischen Aspekten durchgestyltes Menü.

Herr Youssef, experimentelles Dining bedeutet für Sie offenbar, die Menschen zu irritieren. Sie lassen Ihre Gäste Scherben aus Zucker probieren, die täuschend echt aussehen.

„Essbares Glas ist das eine. Menschen durch multisensorische Gastronomie herauszufordern, ist uns wichtig. Doch wir wollen sie nicht in Angst versetzen – allerdings dürfen sie sich ein bisschen unwohl fühlen. Ein Beispiel: Quallen. In Japan und China werden sie gern gegessen, in der westlichen Welt verbindet man diese Tiere mit dem für manche Arten typischen Gift und lehnt sie daher als Speise ab. Quallen schmecken großartig, und jeder, der sie bei uns probiert, ist von dem Geschmack begeistert.

Was hat das experimentelle Dining hier bewirkt? Die Menschen haben nach anfänglicher Irritation letztlich einige Vorurteile oder doch zumindest Hemmnisse abgelegt. Der kurze Moment der Irritation gehört dazu. Allerdings braucht es für die gelungene Irritation den richtigen Rahmen. Hummersuppe in einem Schuh serviert, kann in einem kreativen Fine Dining-Restaurant durchaus bei den Gästen ankommen, in einem einfachen Bistro um die Ecke dürfte der Gast das dagegen grauenhaft empfinden.“

Hintergrundmusik und Karamellspray werden in der Gastrophysik wundersame Geschmacksmanipulationen nachgesagt. Stimmt das?

„Tatsache ist, dass sich sehr laute Musik im Restaurant negativ auf das Empfinden von Geschmack auswirkt. In Londoner Lokalen ist das momentan oft zu finden, ein Trend, den ich nicht gutheiße. Liegt ein künstlicher Karamellduft in der Luft, schmecken Eiscreme oder Pudding süßer. Wir versuchen in unseren Studien herauszufinden, was den Geschmack beeinflusst. Faszinierend ist beispielsweise, dass Menschen, wenn sie Samt oder Seide berühren, Whiskey geschmacklich milder empfinden. Fassen sie dagegen Sandpapier an, also etwas sehr raues, schmeckt der Whiskey alkoholischer und feurig. Physikalisch passiert hier nichts, es sind allein unsere Assoziationen mit Seide und Sandpapier, die hier wirken.“

Wie kann ein Glas den Geschmack eines Getränks unterstreichen oder vielleicht verändern?

„Dazu gibt es viele berühmte Studien. Wein aus einem Becher aus Pappe oder billigem Pressglas wird anders wahrgenommen als aus einem sehr hochwertigen Glas. Derselbe Wein oder Whiskey kann in exzellenten, aber unterschiedlich gestalteten Gläsern unterschiedlich schmecken, was teilweise mit dem Gewicht oder der Form zu tun hat. Auch die Lichtfarbe kann den Geschmack verändern. Rosé-Wein in einem schwarzen Glas wird nur schwer geschmacklich als solcher erkannt, denn das Visuelle bestimmt maßgeblich unsere Wahrnehmung. Oft heißt es, je schwerer ein Glas, desto mehr sind die Leute bereit, Geld für das Getränk auszugeben. Das ist zu pauschal, so funktioniert das nicht. Es ist vielmehr das komplexe Zusammenspiel vieler sensorischer Anregungen, was wir letztlich als Genusserlebnis verorten. Unser Gehirn reagiert auf diese Impulse und ruft Dinge ab, die es dort verankert hat, auch Erinnerungen.“

Sie entwickeln mit William Welch und anderen Designern Geschirr, das sich positiv auf den Genuss auswirken soll.

„Hierbei fließen die Ergebnisse einer Studie ein, bei der wir uns mit der Frage beschäftigten, inwieweit die Qualität und die Ausführung von Designer-Geschirr das Essen verbessert beziehungsweise wodurch Speisen wertiger und appetitlicher empfunden werden. In diesem Bereich der Gastrophysik wurde zuvor nicht geforscht. Diese sehr spannende Studie, an der auch der Ernährungspsychologe Professor Charles Spence von der Universität Oxford beteiligt war, werde ich auf der Ambiente präsentieren.“

Wie formulieren Sie die wichtigsten Erkenntnisse ihrer Arbeit?

„Unsere Experimente beweisen, dass beim Essen alle fünf Sinne beteiligt sind: das kulinarische Vergnügen entsteht im Kopf. Neben den Speisen selbst gehören das passende Licht, Projektionen, Farben, Sound, Aromen und Texturen zum Dining-Erlebnis. Ziel von ‚Kitchen Theory‘ ist nicht, neue Dinge zu erfinden oder zu kreieren, sondern Dinge wiederzuentdecken, die schon immer in uns fest verankert sind und so unsere Sinneseindrücke auf vielfältige Weise steuern. Das wollen wir wissenschaftlich untermauern. Unser ‚Chef’s Table‘ ist streng genommen kein Restaurant, sondern eine gastronomisch-multisensorische Erfahrung.

Einen Dresscode gibt es dort übrigens nicht, Hauptsache Kleidung, in der man sich wohlfühlt. Und: Was ich in den letzten zehn Jahren gelernt habe, ist, dass es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die einen Geschmack physikalisch, psychologisch und sensorisch auf die gleiche Weise erleben. Dabei spielt auch der kulturelle Hintergrund eine Rolle. Im Westen wird die Farbe Rot mit süß assoziiert, Grün mit sauer. In Mexiko ist Rot sauer, wegen der landestypischen Salsa-Soße. In Asien verbindet man Schwarz mit salzig, was wiederum mit der dort beliebten dunklen Würzsoße zu tun hat. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.“

Gibt es Fallstricke, auf die Restaurants achten sollten?

„Viele scheitern tatsächlich, weil sie auf preisgünstiges Geschirr gesetzt haben. Oder das Essen war doch zu experimentell. Auch im Fine Dining wollen die Gäste eine richtige Mahlzeit zu sich nehmen, das ist ihnen bei aller Experimentierfreude wichtig. Und es kommt sehr darauf an, wo man isst. In einem Berliner Trendlokal mag ein Cocktail im Marmeladenglas funktionieren, in einem Pariser 3-Sterne-Restaurant oder Luxushotel sicher nicht, denn nicht jeder, der dort hingeht, will so viel Avantgarde. Auch ein Essen auf einem Pappteller wäre dort fehl am Platz. Im Kern geht es immer um das richtige Maß. Wir leben in einer Zeit, in der das Essen als Kunstform weitgehend akzeptiert wird. Als meine Großmutter jung war, galt eine kunstvolle Esskultur als geradezu unmoralisch, war diese doch Königen und dem Adel vorbehalten – denken Sie an große Tischfiguren aus Zucker oder sehr aufwendige silberne Tafelaufsätze, auf denen die Speisen wie Schätze präsentiert wurden.

Der Kardinalfehler, den man im Fine Dining machen kann, ist, nur auf einzelne Elemente und nicht auf die Gesamtkomposition zu schauen. Sehr viele Restaurants lassen sich von unseren Studien inspirieren, nutzen aber die Anregungen nur isoliert, das kann in der Regel nicht funktionieren. So wie es nicht funktioniert, ein Pilzgericht auf einem Holzteller zu servieren, mit der Absicht, das Essen ‚schmeckt‘ so mehr nach Wald. Das wäre zu einfach. Bei uns haben wir die Projektion des Waldes, den Geruch im Raum nach feuchter Erde, dazu grünes Licht und Sound mit Vogelgesang und Windgeräuschen – die Elemente wirken als Einheit und berufen sich auf Erinnerungen. Jeder Mensch kennt diesen Geruch nach Erde nach einem erfrischenden Regenschauer, wie wunderbar und nostalgisch. So wird eine emotionale Sinnesstory daraus.“

In welchem Restaurant außerhalb Londons haben Sie zuletzt eine Geschmackssensation erlebt – und in welchen Hotels relaxen Sie privat?

„Das ‚Disfrutar Barcelona‘ war so eine Entdeckung. Eine spektakuläre Küche, die wirklich Unglaubliches ausführt. Urlaubsgefühle kommen auf im ‚The St. Regis Osaka‘ und im Wolkenkratzerhotel ‚Lebua at State Tower‘ in Bangkok.“

Disfrutar Restaurant in Barcelona, Spanien, © Andrià Goula
Lebua Hotel at State Tower in Bangkok, Thailand, © Sylvia Matzkowiak

Abschließend noch der Blick in die Zukunft. Was wird man in 50 bis 100 Jahren von unseren Geschmacksfavoriten und Essgewohnheiten halten?

„Da sich die Menschen dann nur noch von Labor-Fleisch ernähren werden, wird man rückblickend von einer barbarischen Zeit sprechen. Man aß Tiere. Mit Entsetzen schauen unsere Nachfahren auf die aggressive Massentierhaltung. Essen wird in der Zukunft maßgeschneidert und damit optimierter sein, je nach Alter, Gesundheit und Lebensumständen – eine Art von Medical Food. Ich esse übrigens gern Fleisch.“