Form und Fantasma: Der Style von Freddy Mamani.

Der bolivianische Architekt Freddy Mamani schafft berauschende Wunderwelten in Häusergestalt. Sie passen in eine Zeit, die optimistischen Futurismus gut gebrauchen kann.

 

Die bolivianische Stadt El Alto ist nicht nur die höchstgelegene der Welt. Auch ihre Architektur scheint wie im Höhenrausch entstanden zu sein. Die schwindelerregend farbenprächtigen Gebäude hat die Stadt ihrem kühnen Baumeister Freddy Mamani zu verdanken. Er arbeitete anfangs als Maurer und studierte später Bauwesen. Seine Karriere begann, als ihm ein lokaler Unternehmer um etwas „Einzigartiges“ bat. Mamani baute ihm ein hellgrünes Haus, das wie ein alter Tempel aussah und gleichzeitig aus dem Weltall gelandet zu sein schien. Mit dem von ihm begründeten „Neo Andean Style“ hat sich Mamanis Geist mittlerweile in der ganzen Stadt ausgebreitet und findet auch Anklang im internationalen Design, etwa in Form von Kissenbezügen aus Samt von Bungalow Denmark oder Decken aus Merino- und Lammwolle von Klippan Yllefabrik. Mehr als hundert Gebäude hat er in El Alto im „Freddy Mamani Style“ bereits fertiggestellt.

1 Kissen von Bungalow Denmark / 2 Kayoom Wandbild / 3 Decke von Klippan Yllefabrik / 4 Gefäß von Dottir
Veranstaltungshalle in El Alto, Bolivien, Design von Freddy Mamani, © Mattia Polisena

Ein Raum so feierlich wie seine Gäste

Dass die Stadt mitunter das „Vegas in den Anden“ genannt wird, liegt besonders an den Festsälen, die Mamani baut. Er ist bekannt für seine überkandidelten „Salones de eventos“, die mit postmoderner Grandezza aufregende Bühnenbilder für Hochzeiten, Geburtstagsfeiern und andere Feierlichkeiten bilden. El Alto ist ohnehin die Stadt der Parties und des Karnevals, auf denen die Menschen sich aufwändig verkleiden. „Ich dachte, es wäre schön, einen ebenso beeindruckenden Innenraum für diese Partys zu haben“, sagt Mamani. Kunterbunt gestreifte Säulen tragen gewölbte Decken, die mit prächtigen Kronleuchtern und LEDs geschmückt sind; mit Spiegeln verkleidete Zwischengeschosse reflektieren die Traumwelt ins Unendliche. Ein Partypalast ist wilder und kunstvoller als der andere.

1 Reflections Copenhagen Spiegel / 2 Hängelampe von Embassy Interiors / 3 Fab Habitat Outdoor-Teppich / 4 Schale von 3D Glassware

Viele Referenzen im „Freddy Mamani Style“ verweisen auf Motive einer sehr alten Architektur, die die nahe gelegene frühere kaiserliche Hauptstadt Tiwanaku prägte. Von der Stadt aus wurde vor hunderten Jahren einen Großteil der südlichen Anden kontrolliert. „Ich wollte diese Linien und Motive aus Tiwanaku retten und in die zeitgenössische Architektur überführen.“ Im Fries vieler Häuser zitiert er nicht nur geometrische Formen, sondern auch Darstellungen von Kondoren, Pumas und anderen Elementen aus der Natur, vermischt mit figurativen organischen Elementen wie Bergen, Blitzen und Blumen. Mit dieser berauschenden Verschmelzung von altertümlicher Symbolik und poppigem Sci-Fi trifft Mamanis Stil auch international einen Nerv, gerade in Zeiten, in denen Interiors spielerischer werden. Designstücke wie ein übergroßer Diamant-Spiegel von Reflections Copenhagen, eine auffällige rot-grüne Schale von 3D Glassware oder die Leuchte „The Flame“ von Embassy Interiors wirken, als stammten sie aus Mamanis Räumen.

Sabina Glass Poland

Interieurs wie aus dem Flipper-Automat

In ihrer Farbe und Vitalität erinnern Mamanis Welten auch an die Werke des kongolesischen Künstlers Bodys Isek Kingilez. In seiner Arbeit erforschte er Möglichkeiten für eine harmonischere Gesellschaft der Zukunft. So entstanden utopische Modelle voller Fantasma, die er aus einer breiten Palette an Alltagsmaterialien und gefundenen Gegenständen wie farbigem Papier, Plastik, Cola-Dosen und Flaschenverschlüssen zusammensetzte. Sowohl Mamanis als auch Kingilez’ Arbeiten wirken mit ihren augenfälligen Paletten aus Rot-, Rosa-, Blau- und Grüntönen fast so, als hätte eine Armee von Spielautomaten in Gebäudegröße die Stadt eingenommen. Zugleich passen die Traumwelten des „Freddy Mamani Style“ zum aktuellen Revival der Siebzigerjahre – ein Stil, in den sich auch die psychedelischen Glas-Skulpturen von Henryk Rysz für Sabina Glass oder die Leuchte von Mauro Ferretti harmonisch einfügen.

1 Present Time Gießkanne / 2 Lampe von Mauro Ferretti / 3 Vase von Rima Casa / 4 Mossapour Lounger
Häuser in El Alto, Bolivien, Design von Freddy Mamani, © Mattia Polisena
1 Untersetzer von NAV Scandinavia / 2 Karaffe mit Gläsern von Spring Copenhagen / 3 Schale von Gibson Overseas / 4 LSA International Weinglas / 5 Schale von Evans Atelier / 6 Serax Tablett
 

El Alto ist ein Schmelztiegel von Tradition und Moderne. Seit der Fertigstellung seines ersten großen Werkes 2005 hat Freddy Mamani die urbane Ästhetik dieser Stadt geprägt, die einst die ärmste Boliviens war und heute zu einem der am schnellsten wachsenden urbanen Zentren des Landes avanciert ist. Eine der bedeutendsten Inspirationen für seine kaleidoskopartigen Arbeiten ist das Aguayo, ein farbenfrohes Gewebe der Aymara – jener indigenen Gruppe zu der Mamani gehört. Das Aguayo lebt von Komplementärkontrasten aus Rosa und Grün, Violett und Gelb, immer wieder durchzogen von Zickzack-Mustern. Ebenjene Farben verteilt Mamani großzügig über die Fassaden seiner Häuser. „Meine Entwürfe sind ein moderner Ausdruck unserer Kultur“, sagt der Baumeister, der aus Trotz seinen Kritikern gegenüber eigens ein Architekturstudium absolvierte, als er schon mehr als hundert Häuser gebaut hatte. Mamanis Look hat immer etwas Spielerisch-Energetisches, das sich auch in zeitgenössischen Designstücken wiederfindet, etwa einem knallroten Dekanter von Spring Copenhagen, einem gelben Weinglas von LSA International und einem Wandmuster von NAV Scandinavia – die Objekte sind, wie die meisten Elemente in Mamanis Häusern, übrigens handgefertigt.

Der Freddy Mamani Style: Anklänge an Art Deco und mediterranen Stil

Iterationen von Mamanis fröhlichem Stil haben es mittlerweile in alle Welt geschafft, etwa nach Amsterdam. Die „La Cervecería Bar“ im Osten der Stadt wurde vom Studio Modijefsky entworfen und erinnert in vielen Aspekten ihrer grafisch-surrealen Aufmachung an die Werke des Bolivianers, der Bereich hinter der Theke wirkt mit seinen Leuchtkästen, Spiegeln und grünen Fliesen wie ein Triptychon. Als typische „Cervecería“ soll die Bar ein Treffpunkt sein, um nach Feierabend in Gesellschaft von Kollegen und Freunden einen Drink zu nehmen. Wer hier zwischen gelben Paneelen, rotem Stahl und blauem Textil nicht auffallen will, muss sich dem Interieur anpassen – etwa mit Schuhen von Hester Van Eeghen oder Ohrringen von Paula Bolton.

La Cerveceria Bar in Amsterdam, Niederlande, Design von Studio Modijefsky, © Maarten Willemstein
1 Schal von Eagle Products / 2 Paula Bolton Ohrringe / 3 Schuhe von Hester Van Eeghen / 4 Armband von Mekhada
 

Auch Anklänge an die Formensprache des Art Deco – expressive Symmetrie, Verschachtelungen, aerodynamische Kurven – sind im „Freddy Mamani Style“ zu finden. Deshalb verwundert es kaum, dass die Rettungsschwimmerhäuschen in der Art-Deco-Hochburg Miami Beach mit ihren abstrakten Dachlinien, Konturen, Farben und Materialien so wirken, als seien sie von einem Haus in El Alto abmontiert und nach Florida verschifft worden. Der Architekt William Lane hat die meisten von ihnen entworfen – zuerst im Jahr 1995 als Ersatz für Türme, die beim Hurrikan Andrew zerstört wurden. Sie wurden zum Symbol für die kulturelle und gesellschaftliche Wiederbelebung von South Beach. 20 Jahre später wurde William Lanes Büro deshalb damit betraut, weitere sechs Prototypen zu entwerfen, die den Strand schmücken sollen und Rettungsschwimmer beherbergen, die im Extremfall Leben retten. Wie passend, dass die Häuser – wie Mamanis Entwürfe – eine ungehemmte Lebensfreude ausstrahlen.

Rettungsschwimmerhäuschen am Strand von Miami, © William Lane

Titelbild: Haus in El Alto, Bolivien, © Mattia Polisena