China: Im Land des aufgehenden Designs.

Einst war China der Taktgeber für Innovationen in Kunst und Design. Dann adaptierte der Westen den Stil aus Fernost und machte ihn sich zu eigen. Zeitgenössische Designer aus China arbeiten nun an einer eigenen Interpretation ihrer Kultur, und bekommen für ihr modernes chinesisches Design nicht nur in Asien, sondern auch international viel Anerkennung.

 

Die Faszination von chinesischem Design

Schon seit Jahrhunderten begeistert die Kunstfertigkeit Chinas Menschen weit über die Landesgrenzen hinweg. Als etwa im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts der Handel mit China und Ostasien zunahm, erfreute sich Chinoiserie – von frz. „chinois“ – großer Beliebtheit. Es fing mit importierten Porzellanwaren an, deren phantasievolle Ästhetik die Europäer alsbald zu kopieren suchten. So entstand ein neuer Stil, der die steife Opulenz des Barock, die ihm vorausging, ablehnte – und sich bald auch auf Tapeten, Möbel, Textilien, ja selbst in Gärten wiederfand. Von China ging eine starke Faszination aus, denn die wenigsten Menschen in Europa bekamen das märchenhafte Land je zu Gesicht. Sie wussten aber um die exquisite Schönheit und Qualität der feinen Kunst, Seide und Lackwaren, selbst wenn deren Herstellung ihnen lange Zeit ein Rätsel blieb. Der Stil hat sich bis in die Gegenwart gehalten.

Asianera
Auratic

Modernes chinesisches Design ist heute aber weit weniger barock. Dennoch: Die kunstfertige Verspieltheit ist geblieben. Sie manifestiert sich etwa bei Riedel in einem handgefertigten Dekanter aus Kristallglas, oder bei einem faltbaren Tablett von Alessi, das vom chinesischen Architekten Jiankun Liu entworfen wurde. Auch zeitgenössische Objekte aus Porzellan sind kunstvoll gestaltet, aber zugleich puristischer. Damit bedienen sie sowohl den europäischen als auch den asiatischen Markt. Eine moderne Interpretation chinesischen Designs ist auch im Restaurant Canton Table in Shanghai zu sehen, eingerichtet vom gefeierten Architekten-Duo Neri & Hu. Es greift das reiche Art-déco-Erbe der Weltmetropole auf. Dazu passt die Küche von Chefkoch Eason Man, der kantonesische Spitzengerichte wie Abalone, gebratenes Spanferkel und in Salz gebackenes Huhn auf zeitgenössische Weise interpretiert.

1 Asianera Teekanne / 2 Teller und Dose von Rosenthal / 3 Luftbefeuchter und Aromadiffuser von Changlin Houseware / 4 Aromadifusser von Chando / 5 Riedel Dekanter / 6 Faltbares Tablett von Alessi
Restaurant Canton Table in Shanghai, China, Design von Neri & Hu
1 Fächer von Au Maison / 2 Rosenthal Teppich / 3 Konsole von Lambert / 4 Eichholtz Tischleuchte

Lacke, feine Stoffe, Gold: auch dafür steht modernes chinesisches Design

Zu den wiederkehrenden Motiven klassisch chinesischen Designs, die vom modernen chinesischen Design oft aufgegriffen werden, zählen unter anderem die Formen der herrschaftlichen Architektur aus der Song-Dynastie, insbesondere chinesische Pagoden. Ein Beispiel ist die „Mandarin“-Tischleuchte von Eichholtz mit einem Schirm aus Samt und goldener Innenseite. Doch auch ohne offenkundige Referenzen wie diese sind die Codes chinesisch inspirierter Interieurs leicht zu dechiffrieren. Sie leben von einer Fusion aus schwarzem, glänzendem Lack, der mit Gold und/oder kräftigem Rot akzentuiert wird. Dieser sogenannte „Chinalack“, der etwa auf einer Konsole von Lambert zu finden ist, wird schon seit vielen hundert Jahren genutzt. Dabei überziehen Kunsthandwerker das Holz mit Schichten aus Baumharz. Der Saft härtet zu einem dauerhaften Harz aus, das den Möbeln ihren charakteristischen Glanz verleiht.

Kare Design

Klassisch chinesische Interieurs leben von einer Farbpalette aus oft warmen oder neutralen Farbtönen, wobei Rot und Schwarz wiederkehrende Farben sind. Dazwischen mischt sich Gold, allerdings ohne ostentativ zu wirken. Stattdessen setzt es edle Akzente. Der Paravent des deutschen Herstellers Kare etwa ist aus lackierter massiver Birke gefertigt und mit kunstvollen Naturmotiven geschmückt. Die frühesten Paravents entstanden schon in der Han-Dynastie vor rund 2.000 Jahren, ursprünglich als Schutz vor Zugluft. Heute bringen sie nicht nur Ordnung in die Wohnung, sondern auch einen Hauch fernöstlicher Exotik. Weitere Elemente modernen chinesischen Designs sind feingliedrige Gittermöbel, die ihren Ursprung in chinesischen Laubsägearbeiten finden; Schirme und Fächer sowie dekorative Vasen, die beinahe so kunstfertig sind wie zu ihrer Blütezeit in der Ming-Dynastie.

Die Einflüsse von chinesischem Design sind weitreichender als oft angenommen. „Die Stühle aus der Ming-Dynastie haben als grundlegende Entwürfe eine Strahlkraft bis in die Gegenwart“, sagen die Designer der japanischen Marke Time & Style. „Viele Stühle der Gegenwart sind von den Entwürfen aus dieser Zeit beeinflusst.“ Mit „Long“ haben die Designer einen Stuhl entworfen, der mit seinen charakteristischen Kurven von den Armen zur Rückenlehne zwar an diese alte Zeit anknüpft, insgesamt aber auch stark an Hans Wegners „Wishbone Chair“ erinnert. Der Däne entwarf ab 1944 eine Serie von Stühlen, die von der Ming-Dynastie inspiriert waren. Sein „Wishbone Chair“, der die Formensprache dieser antiken Sitzmöbel aufgreift, sollte Wegners erfolgreichster Entwurf werden, er wird bis heute produziert.

1 Kissen von Scatter Box / 2 Vase von Shaanxi Langhao / 3 Time & Style Stuhl / 4 Richmond Interiors Wandregal
Zicco
Bomshbee

Das moderne chinesische Design ist eine relativ junge Strömung. Dabei vermischen die Designer zuweilen die traditionelle Formensprache mit westlichen, skandinavischen Anklängen, was sich nicht nur in den Schalen von Zicco oder Karaffen und Trinkgläsern von Bomshbee, einem Designbüro aus Hongkong, niederschlägt, sondern auch an Orten wie dem Hotel Alila Yangshuo von Vector Architects, das in einer alten Zuckerfabrik untergebracht wurde. In ihren Entwürfen vereinen die Designer Geschichte und Weltläufigkeit – und erzwingen eine Neubewertung des chinesischen Designs, das lange im Schatten der „Kopierfabriken“ stand. Denn längst will man in China die Interpretation der eigenen Geschichte nicht mehr dem Westen überlassen.

Alila Yangshuo Hotel in Yangshuo, China, Vector Architects, © Foto: Su Shengliang

Eine starke Riege von Designern wie das Studio MVW schickt sich an, alte chinesische Formen und Motive spielerisch mit einer modernen, westlichen Ästhetik zu mischen. Der Chinese Xu Ming und die Französin Virginie Moriette schaffen so skulpturale Design-Kunstwerke wie die „BlooMing“-Serie, in der sie die klassische Ming-Vase dekonstruieren und etwa zu einer Deckenleuchte konvertieren.

BlooMing Ceiling Lighting von Studio MVW, verfügbar bei Galerie BSL in Paris, Frankreich

Die Zukunft von „Made in China“

Das Studio ist zusammen mit anderen Protagonisten des „neuen chinesischen Designs“ Teil des Buches „Contemporary Chinese Furniture Design“ von Charlotte und Peter Fiell. Die Autoren besuchten Designstudios, Handwerksbetriebe, Fabriken und Museen, in denen altes Handwerk wiederbelebt wird. „Was wir entdeckten, war ein außergewöhnlicher Pool von Talenten, die das westliche Konzept dessen, was ‚Made in China‘ wirklich bedeutet, völlig neu definieren“, sagen sie. Die Designer blicken auf ihre kulturellen Wurzeln zurück, auf das opulente Vermächtnis der Song- und Ming-Dynastie, und beleben vergangene Techniken, Materialien und Formen mit modernen Mitteln wieder.

Buch „Contemporary Chinese Furniture Design: A New Wave of Creativity“ von Charlotte und Peter Fiell, Laurence King Verlag
Hotel Amanyangyun in Minhang, China, Kerry Hill Architects, © Foto: Sohei Oya

Ein gutes Beispiel dafür und zugleich eines der aufsehenerregendsten Designprojekte des Landes ist das kürzlich eröffnete Amanyangyun von Kerry Hill Architects. Ein Milliardär hat dafür sein Heimatdorf, das von einem Stausee überflutet werden sollte, in Balken, Schindel und Ziegel zerlegt und es in der Nähe von Shanghai, 700 Kilometer entfernt, als Hotel wieder aufgebaut. Für das Projekt ließ er eigens einen Wald aus 8.000 Kampferbäumen mit umziehen, der heute das Hotel umgibt. Die 26 Villen ließ er mit Granit, Glas und Bambus ausgestalten, und als Holz kamen neben chinesischer Kiefer, Ulme und Eiche auch Nanmu-Holz zum Einsatz, das früher Kaisern vorbehalten war. Sie verbinden sich zu einem Bild von Tradition und Moderne, das beweist: Die Zukunft des modernen chinesischen Designs wird in China geschrieben.

 

Titelbild: Alila Yangshuo Hotel in Yangshuo, China, Vector Architects, © Foto: Su Shengliang