Gibt dem Leben einen guten Rahmen.

Manchmal wirken sie industriell, manchmal fragil, aber immer architektonisch: Grafische Linien bringen Ordnung in die Wohnung. Der „Frame Style“ gibt jedem Raum ein klares Profil – und lässt trotzdem genug Freiraum für den eigenen Gestaltungswillen.

Es begann mit einem Experiment. Der Designer Tom Dixon hatte sich vorgenommen, den leichtesten Metallstuhl der Welt zu entwickeln. Inspiriert von der Architektur großer Brücken und Hochspannungsmasten entwarf er Anfang der Neunziger Jahre „Pylon“ – einen Stuhl aus einer komplexen Gitterstruktur mit drei Millimeter dünnen Edelstahlstäben. „Die unzähligen Versuche in der Konstruktion lehrten mich, wie man Dinge richtig macht“, sagt der Designer. „Seither interessieren mich die einem Objekt zugrunde liegenden Strukturen viel mehr als seine Oberflächen.“

Tom Dixon

Heute ist Tom Dixon, auch dank seiner innovativen Arbeit mit Metall, einer der gefragtesten Designer der Welt. Zum „Pylon“-Stuhl gesellen sich mittlerweile auch Tische. Wer einen „Pylon“-Stuhl kaufen möchte, muss sich auf lange Wartezeiten gefasst machen. Warum aber ist er so beliebt? Der Stuhl mag mit seiner reduzierten Optik auf den ersten Blick nicht sehr luxuriös aussehen, aber er bezieht seinen Reiz durch die visuelle Stimulation, die ihn wie ein Kunstwerk wirken lässt – komplexe Architektur im Kleinformat. Dadurch steigt sein ästhetischer Wert über den eines gewöhnlichen Stuhls. (Und ist tatsächlich auch überraschend bequem.)

1 Paravent von Hey-Sign
2 Uhr von Progetti
3 Stuhl von Fuhrhome
4 Lampe von KARE
1 Paravent von Hey-Sign
2 Uhr von Progetti
3 Stuhl von Fuhrhome
4 Lampe von KARE

Blick ins Innerste eines Objekts

Das, was Dixon so fasziniert – die Erforschung der skelettartigen Struktur eines Objekts, nicht seiner Oberflächen – ist eine Eigenschaft, mit der sich heute immer mehr Designer befassen. Manche Entwürfe sehen dabei architektonischer aus als andere, und auch wenn sie bei weitem nicht so komplex sind wie der Stuhl von Dixon, sind alle Produkte – sei es ein Paravent, eine Uhr oder eine Leuchte – ein Blickfang für sich. Denn die millimetergenauen Kreationen, die mit Volumina und unsichtbaren Körpern spielen, erlauben eine große Varianz der Formen, die mal strenger, mal verspielt wirken, mal filigraner, mal robust, und trotzdem so wirken, als wären sie zusammen erdacht worden. Und praktisch sind sie allemal: Wo sonst eignet sich ein Beistelltisch zugleich als Korb?

Villa Collection
LivWise

Die Vielfalt der drahtigen Objekte zeigt sich auch darin, dass sie kaum klar eingeordnet werden können. Mal wirken sie modernistisch, tendieren in Richtung Bauhaus, mal gleichen sie Art-déco-Objekten. Andere Stücke wie Schalen von Livwise zeigen Anklänge an Mid-Century-Modern. Fast wirken sie wie Komplementäre zu den Entwürfen Harry Bertoias: Der Designer arbeitete mit Draht, Metall und Sperrholz, die Linie war seine Muse. Bertoias berühmtestes Möbeldesign ist wohl der skulpturale „Diamond Chair“, den er 1952 für Knoll entwarf. Bertoia verstand sich wie kein zweiter darauf, „Linien lebendig zu machen“, sagt der Kurator Glenn Adamson.

Kanto Restaurant in Colico, Italien, © Marcello Mariana

Geometrische Strenge

Im japanischen Restaurant „Kanto“ am Comer See hat Interior Designer Fabio Gianoli aus den grafischen Linien eine Tugend gemacht. „Ich war schon immer fasziniert von der Kultur des Landes, also wollte ich den richtigen Weg finden, um eine starke und respektvolle Haltung gegenüber der japanischen Philosophie zu entwickeln“, sagt der Designer. Das Restaurant erstreckt sich nun um einen zentralen Mittelblock aus Eisenrohren, die teilweise als Regale und Pflanzenaufhängungen genutzt werden. „Ich wollte einen Raum schaffen, der geordnet ist, symmetrisch, streng, aber gleichzeitig mit vielen, kleinen Details, wie die Gerichte der japanischen Küche.“

Pin Jang
By Lassen
1 Regal von Mauro Ferretti
2 Flaschenregal von Zack
3 Untersetzer von Oyoy
4 Tablett von Dôme Deco
Mono
Giobagnara

Ein anderer Designer, der sich um die klare Linie verdient gemacht hat, ist der Däne Mogens Lassen. Mit seinem scharfen Sinn für Funktionalismus entwarf er 1962 den Kerzenhalter „Kubus“, der ursprünglich nur Familie und engen Freunden vorbehalten war. Heute wird er von by Lassen vertrieben und ist bei Minimalismus liebenden Architekten und Designkennern längst ein Klassiker. Später ist eine ganze Produktpalette um den Kerzenhalter entstanden, darunter der „Twin Bookcase“ mit zweifarbigen Wendeböden, der noch heute werden von erfahrenen Handwerkern im dänischen Holstebro hergestellt wird. In ihm kommen nicht nur Lassens Produkte zur Geltung, sondern auch jene, die sich aus dieser Schule entwickelt haben – vom Tablett bis zur Teekanne.

Swarovski
Andrea House
Ludus Ludi

Wie sich grafische Linien auch für die Beleuchtung einsetzen lassen, zeigt Swarovski mit seinen „Fyra“-Leuchten: Die Kristalle, die das Licht mit jeder Facette einfangen und dann in Form unzähliger Fragmente an die Wand werfen, hängen in einem lampionartigen Metallrahmen. So wirken die Kristalle beinahe wie Ausstellungsstücke – ohne den Raum für sich zu beanspruchen. Das sehr geometrische Design klingt nach viel von dem, was wir in den letzten fünf Jahren in Grafik und Design gesehen haben.

© Jan Plechac

Die Wirkkraft klarer Linien hat der tschechische Designer Jan Plechac in seiner Reihe „Icons“ untersucht. Plechac hat Möbelklassiker wie den „Rot-Blauen Stuhl“ von Gerrit Rietveld ganz aus Draht nachgebaut und setzt sie so in einen neuen Kontext. „Es war der Versuch, neue Emotionen durch alte Erinnerungen zu wecken.“ Jeder Hinweis auf Funktion und Form, jeder Hinweis darauf, ob ein Möbel im Innen- oder im Außenraum genutzt werden kann, verblasst; die Drahtstruktur entmaterialisiert die Entwürfe und gibt ihnen so eine neue Qualität.

1 Trennwand von Trademark Living
2 Champagnerflöte von The DRH Collection
3 Regal von Zanetto
1 Trennwand von Trademark Living
2 Champagnerflöte von The DRH Collection
3 Regal von Zanetto

Grafische Objekte bringen durch ihre klare Struktur einerseits Ordnung in die Wohnung, verbinden diese architektonische Strenge aber gleichzeitig durch ihre vergleichsweise zarten Profile mit einer gewissen Leichtigkeit. Sie ordnen das Leben, verstecken es aber nicht. Dabei ist es egal, ob sie als Trennwand eingesetzt werden oder als Regal in Bad oder Küche. Überall ziehen sie ihre eleganten Bänder. Und je nachdem, mit welchen Materialien sie kombiniert werden – rauher Beton etwa oder samtweiche Polster – wirken sie mal weniger, mal mehr industriell (Beton und Stahl sind eben die häufigsten Baumaterialien). Sie passen sich überall ein.

Dresz
Spine Bar in Beirut, Libanon

Gezielt in Szene gesetzt, können grafische Linien in der Gestaltung aber auch neue Maßstäbe setzen. In Beirut etwa, wo sich Gastronomen aufgrund der Vielfalt an Bars sehr anstrengen müssen, um aus der Masse herauszustechen, ist der Rooftop-Bar „Spine“ das gelungen. Statt sich auf die bestehende Architektur des Hauses zu beziehen, konzipierte das libanesische Designbüro Gatserelia eine Lichtstruktur mit einer nach oben gerichteten Ästhetik, die wie ein Himmelsbild wirkt. Die Tetris-ähnlichen Boxen beginnen den Abend in einem monochromen, subtilen Farbton und werden im Laufe der Nacht immer dynamischer. In Hunderten von Farbvariationen werden sie eins mit der Musik und den Bewegungen der Gäste. Und plötzlich werden kleine Linien ganz groß.