Der neue Wert der Dinge.

Neue Gemütlichkeit oder Neo-Biedermeier? Weltfluchtartig entsagen junge Menschen der Wegwerfgesellschaft und holen sich Dinge ins Haus, die wieder Generationen überdauern können. Das lässt sich mittlerweile sogar in Hotels erleben.

In La Lonja, dem historischen Herzen Palmas, gibt es einen Ort, an dem alte Werte noch etwas zählen. Wo der Stuhl noch herangeschoben und den Älteren der Vortritt gelassen wird, wo Wohlwollen und Demut die Maxime des Handelns sind: das Boutique-Hotel Can Bordoy. „Wir glauben an das Unperfekte, wir respektieren Mutter Natur. Wir glauben an ein Haus, das wir ein Zuhause nennen können“, steht im „Manifest für gute Sitten“ des Hotels. „Wir sind ein Haus für Romantiker.“ Seit Jahrhunderten steht dieses edle Haus, das kürzlich kunstvoll restauriert wurde, in Mallorca, mit teils raumhohen Fenstern, die sich zum Innenhof öffnen, Holzbalkendecken und Verzierungen. Das Designstudio Ohlab kombinierte Art-Deco-Elemente mit dicken Samtvorhängen, um die Eigenheit der historischen Räume zu unterstreichen. „Um ein außergewöhnliches Leben zu leben, muss man ein Auge für das Gewöhnliche haben.“

Can Bordoy Hotel in Palma de Mallorca, Spanien // Celine Paris

Der bürgerliche Chic ist zurück

Plötzlich sind sie wieder da, die Paläste der Gemütlichkeit: Orte gekleidet in Farben von Braun über Beige, Olive und Grau bis hin zu Blau bis Schwarz. Gedeckte Töne und bodenständige Schnitte erleben im Interior wie in der Mode ein Comeback. Die Rückkehr dieses bürgerlichen Chics nach Jahren des cleanen Minimalismus kommt nicht überraschend, denn langsam verstehen wir, wie die Digitalisierung unser Verhältnis zu den Dingen verändert hat. Erbstücke werden kaum mehr getragen, selten überdauern Dinge mehrere Generationen. Stattdessen werden Produkte flüchtiger, kurzlebiger. Immer neue Dinge drängen auf den Markt, sie werden austauschbarer, so wie Beziehungen und Jobs, die sich in den Großstädten mit rasender Geschwindigkeit ändern.

1 Kette von Leonardo
2 Tasche von Ackermann
3 Uhr von Oozoo
4 Handtaschen-Träger von Mossapour Interior Designs
5 Schatulle von Ishela
6 Notizbuch von Skinny la Minx
7 Decke von Tiseco Home Studio

Das Aussterben der Memorabilia, die das Leben der früheren Generationen prägten, hat Platz gemacht für einen digitalen Raum, der nicht greifbar ist. Das Zuhause wurde ausgemistet und entmaterialisiert. Das schürt langsam auch die Sehnsucht nach Dingen zum Verweilen, nach lebenslangen Begleitern. Einfache, schlichte Goldketten etwa oder Handtaschen aus Olivenleder oder Uhren, die an Vintage-Modelle erinnern. Die junge Generation beginnt, wieder Dinge für die Ewigkeit zu kaufen. Dinge, die ans Herz wachsen können. Und auch die Setzkästen, in denen wie früher liebgewordene Dinge aufbewahrt werden können, kehren mit dem Neo-Biedermeier in die Wohnungen zurück.

1 Schmuckbox von Stackers
2 Spiegel von Hoff Interieur
3 Duschvorhang von Södahl
4 Waschtisch von Villeroy & Boch
5 Hocker von Sika Design
1 Schmuckbox von Stackers
2 Spiegel von Hoff Interieur
3 Duschvorhang von Södahl
4 Waschtisch von Villeroy & Boch
5 Hocker von Sika Design
Tiseco

Moderne Interiors werden rustikaler: Badezimmer mit Waschschränken aus Walnuss, Duschvorhänge in gedeckten Tönen oder Hocker aus Regenbaumholz lösen die geflieste „Nasszelle“ ab – Holz lässt Bäder zu einer Wellness-Oase im stressigen Alltag werden. Es ist eine Reprise vergangener Zeiten. Das Bad wird als Wohnraum wiederentdeckt. Materialien dürfen ganz sie selbst sein, lassen den Menschen zur Ruhe kommen. Gelebt wird ein eleganter Funktionalismus.

Rumms
MagicLinen

Der Wunsch nach einem geordneten Leben

In der Küche führt der Weg bei der jungen Generation weg vom hoch-technisierten Kochumfeld zurück zum Ursprünglichen. Der Trend zu Wabi-Sabi, zu unvollkommener Keramik und der Tischkultur mit Robinienholzstühlen und Leinenservietten erfüllt den Wunsch globaler Nomaden nach einem geordneten Leben: Psychologen des Forschungsinstituts Rheingold haben bei einer Befragung von 100 jungen Menschen herausgefunden, dass sie sich angesichts einer „als zerrissen und brüchig erlebten Lebenswirklichkeit nach Stabilität, Sicherheit und Kontrolle sehnen“, die sie durch die Flucht in eine abgesteckte, verlässliche Welt finden. Dazu gehören etwa Teesets aus Keramik, Kerzenständer und Porzellanteller, die dank neuer Technologien wesentlich beständiger sind als zu Großmutters Zeiten.

1 Teekanne von Association for Craft Producers
2 Kerzenhalter von Novoform
3 Salztopf von ScanWood
4 Schale von Sibo Homeconcept
5 Tasse von Seltmann
6 Teller von Luzerne
1 Teekanne von Association for Craft Producers
2 Kerzenhalter von Novoform
3 Salztopf von ScanWood
4 Schale von Sibo Homeconcept
5 Tasse von Seltmann
6 Teller von Luzerne
Gem Restaurant in New York, USA

Selbst neu eröffnete Läden und Restaurants sehen heute mitunter so aus, als seien sie schon Jahrzehnte da gewesen. So wie das „Gem“ in der New Yorker Lower East Side, mit dem der erst 20 Jahre alte Flynn McGarry ein Fine-Dining-Restaurant mit gerade mal 18 Plätzen eröffnet hat, das sich hinter einem schweren Vorhang verbirgt. Das Restaurant ist ausgestattet mit einem Navajo-Wandteppich aus den 1920er Jahren, Holzstühlen aus der Mitte des Jahrhunderts und Metalltischen, die McGarrys Freund Brett Robinson selbst entworfen hat. „Es ist alles sehr casual hier“, sagt der 27 Jahre alte Interior Designer, der das Restaurant gestaltet hat. „Es fühlt sich nicht wie ein Restaurant an, sondern wie ein Zuhause.“ Mit seinem eigenen Restaurant hat sich McGarry einen Traum erfüllt und ist damit nicht allein – immer mehr junge Menschen entsagen einer komplexer und fordernder werdenden Berufswelt, die viele Risiken birgt, um sich mit den Händen zu betätigen, wirklich etwas zu schaffen und damit auch den Mitmenschen etwas zurück zu geben.

1 Kronleuchter von KARE / 2 Vitrinenschrank von Pole to Pole / 3 Spiegel von My Flair / 4 Vase von Barotex / 5 Sessel von Triboa Bay Living / 6 Tisch von Inart
Crosley Radio // Trademark Living

Rückzug in die eigenen vier Wände

Manche sprechen da schon von Neo-Biedermeier, der Rückkehr des Biedermeier, der sich als Reaktion auf den napoleonischen Stil auf den Wohnraum der Familie konzentrierte, die politischen Unruhen und die Geschwindigkeit der Welt ausblendete, dem Verlust der Privatsphäre mit einem kontrollierbaren Raum mit klarer Formensprache entgegenwirkte. Frei von Dekor und Ornamenten, schlicht und mitunter bäuerlich, aber gemütlich: mit rustikalem Kronleuchtern, Holzschränken und zuweilen auch Wiener Geflecht. Spotify wird durch den Plattenspieler ersetzt, statt Facebook-Posts werden Wohlfühlmagazine gelesen. Es ist eine einfache, emotionale Welt, ein bisschen nostalgisch, aber meist nachhaltig.

1477 Reichhalter Hotel in Lana, Italien
1477 Reichhalter Hotel in Lana, Italien

In kaum einer Region der Erde lässt sich dieser Eskapismus schon so gut erleben wie in Südtirol. Hotels wie die Villa Verde, das Ottmanngut oder das Reichhalter 1477 verzichten auf Katalog-Mobiliar zugunsten individuell eingerichteter Zimmer. Im Reichhalter 1477, einem Boutiquehotel mit acht Zimmern in Lana, hat Architekt Zeno Bampi die Geschichte des über 500 Jahre alten Hauses behutsam freigelegt. Die Interior Designerin Christina von Berg stellte einfach-elegante Möbel vor die unverputzten Wände, die zusammen mit den alten Dielenböden und Aufsatzwaschbecken ein stimmiges Bild ergeben. Den Fokus auf die essenziellen Dinge lenken, die das Leben lebenswerter machen, vor allem aber das Herz erfreuen.