Den Formen freien Lauf gelassen.

Lange wurde im Design stur der Devise „Form folgt Funktion“ nachgehangen. Nun ist es Zeit für den großen Auftritt: Mit markanten Objekten voller Abenteuerlust schlagen Designer die Brücke zu Architektur und Natur und schrecken auch vor Ornamentik nicht zurück.

Form folgt Funktion

Der Bildhauer Horatio Greenough prägte 1852 einen Satz, der in Architektur und Design bis heute einen hohen Stellenwert hat: „Form follows function“ – die Form folgt der Funktion. Auch wenn er damit nicht meinte, auf Dekor grundsätzlich zu verzichten (selbst Schmuckornamente erfüllten schließlich eine Funktion), wurde sein Leitsatz von nachfolgenden Generationen immer strenger ausgelegt. Die Bauhäusler etwa verstanden unter „Form folgt Funktion“ den Verzicht auf jegliches Ornament. So entstanden zwar teils revolutionäre und ungewohnt schlichte Produkte, der Formensprache aber war selten ein Eigenleben zugestanden worden.

Emko
Umage

Eine neue Designergeneration schickt sich an, mit dieser Maßgabe zu brechen und mit markanten Objekten Mut zum Dekor zu beweisen. „Es ist an der Zeit, den ‚guten Geschmack‘ etwas aufzulockern und dafür auf neue Farben und Formen zu setzen“, sagt der Designer Esben Gravlev Rasmussen. „Kurz: abenteuerlustiger zu sein!“ Mit seinem Label Lucie Kaas fertigt er seit 2012 aufsehenerregende Produkte wie eine an Macarons erinnernde Leuchte oder die Kollektion „Vice“: Mit ihrer futuristischen Form knüpft die Lampe, die in Flamingopink, Miami-Grün und Nebelviolett erhältlich ist, in Form und Farbe an die kühnen geometrischen Muster der Art déco und Pop-Art-Bewegungen des 20. Jahrhunderts an. Zugleich nimmt sie bewusst Anleihen am Neo-Memphis-Stil, indem sie vielseitige und vielfältige Verwendung von Material beweist. Der Standfuß wirkt wie eine Schraubzwinge, die mit zwei markanten Schrauben befestigt ist und sich um eine gebogene LED-Röhre klemmt, die einen halbkreisförmigen Acrylglasschirm zum Leuchten bringt.

Lucie Kaas
1 Salatbesteck von Aerts
2 Teekanne von Cutipol
3 Obstschale von Riva
4 Besteck von Herdmar
5 Tischset von Chilewich
6 Beistelltisch von Szyszka

Markante Objekte: zwischen Design und Architektur

Wo, wie hier, sich das Design der Architektur bedient, entsteht oft ein fruchtbarer Austausch. Die besten Designer sind mitunter selbst Architekten, Zaha Hadid etwa, deren Tische und Skulpturen oft an ihre Gebäude erinnerten. Gestalterinnen wie sie haben das Fundament gelegt, damit Beistelltische längst nicht mehr wie solche aussehen müssen, sondern wie abstrakte Architekturmodelle. Schneidebrettchen können an Fischgrätparkett erinnern, und mittels neuer Lichttechnik können Leuchten längst wie Skulpturen aus Lametta wirken. Hier wird den Formen freier Lauf gelassen, sie haben sich von ihrer Funktion emanzipiert und zugleich einen raffinierten Bogen zurück zu ihr geschlagen. Selbst beliebig wirkende Formen sind oft das Ergebnis monatelanger Entwurfsarbeit.

1 Lampe von Sompex
2 Mobile von Flensted Mobiles
3 Kerzenständer von Nude
4 Couchtisch von Vieco
1 Lampe von Sompex
2 Mobile von Flensted Mobiles
3 Kerzenständer von Nude
4 Couchtisch von Vieco
Ro Collection

Die Wirkmacht von Formen ist schon bei einfachen geometrischen Mustern erkennbar. Grafische Grundformen wie Kreise, Vier- und Dreiecke hat der Mensch verinnerlicht und rufen in den meisten Kulturkreisen ähnliche Assoziationen hervor: Der Kreis etwa, mitunter als „Mutter aller Formen“ bezeichnet (in der Natur stecken sie überall; selbst das Leben startet in einer kreisrunden Zelle), steht für Vollkommenheit, Ewigkeit und Geschlossenheit (man denke etwa an Yin-Yang). Dreiecke werden – je nach Richtung – entweder als standfest wahrgenommen oder dynamischer: Gekippt symbolisieren sie Veränderung und Bewegung, aber auch Wachstum. Vierecke hingegen stehen für Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit, es sind die gängigsten Formen, die uns im Alltag begegnen. Runde Formen werden oft als weiblicher empfunden, gerade als männlicher.

1 Vasen von António Rosa
2 Magnetischer Stresskiller von Philippi
3 Sitzmöbel von Hey Sign
4 Kissen von Oyoy

Formen der Natur

Auf der anderen Seite stehen amorphe Formen, die von Designern geschaffen werden, um mit Symmetrie und Asymmetrie zu spielen. „Amorph“ heißt eigentlich „ungestaltet“, das Gegenteil ist aber häufig der Fall. Mit ihrer Reminiszenz an natürliche Formen stärken sie aber das wiederkehrende Bedürfnis nach Naturverbundenheit, obwohl sie industriell hergestellte Gegenstände sind. Kerzenhalter, die wie miteinander verschmolzene Kieselsteine wirken, Mobiles, die wie Drachen im Himmel fliegen oder Leuchtenschirme wie Strohhüte mit langer Krempe.

Ichendorf Milano
Magisso
1 Ohrringe von Hornvarefabrikken
2 Kabelaufbewahrer von Muemma
3 Portemonnaie von I Like Paper
1 Ohrringe von Hornvarefabrikken
2 Kabelaufbewahrer von Muemma
3 Portemonnaie von I Like Paper

Die Form eines Objekts hat unmittelbaren Einfluss darauf, wie ein Objekt ästhetisch, kommunikativ und praktisch wahrgenommen oder genutzt wird. Mehr noch als im Interior-Bereich, ist das Spiel mit den Formen bei Schmuck und Accessoires ein beliebtes Mittel, um der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen oder den sozialen Status zu kommunizieren. Hier folgt die Form nur bedingt einer Funktion – wobei Schmuck immer auch einen Gebrauchswert besitzen kann. Meist aber reicht die Verschönerung oder optische Aufwertung als Funktion schon aus und gibt auch vermeintlich wirkungslosen Gegenständen eine Daseinsberechtigung.

Ras