Endlich wieder mit allen Sinnen Produktwelten entdecken und sich von Neuheiten inspirieren lassen: Die Ambiente feierte 2023 ihr fulminantes Comeback. Auf der Suche nach aktuellen Trends, neuen Designansätzen und versteckten Schätzen haben wir uns beim Trendscouting Verstärkung geholt und die drei renommierten Designer*innen Ross Lovegrove, Ineke Hans und Mark Braun nach ihren Messeeindrücken gefragt.
Sehnsüchtig und mit Spannung war die diesjährige Ambiente erwartet worden. Zum Re-Start wartete die Weltleitmesse mit vielen Neuerungen auf und spiegelte mit ihrem attraktiven internationalen Produktmix den globalen Markt der Konsumgüter. Eindeutig im Fokus der Ambiente 2023 stand das Thema Nachhaltigkeit, das mit innovativen Produkten allgegenwärtig war. Ob Komposteimer für den Bio-Abfall, Vasen, Schalen und Karaffen aus Recyclingglas, Accessoires aus Upcycling-Leder oder das Comeback von natürlichen Werkstoffen wie Emaille und Keramik – das Bestreben nach nachhaltigerem Konsum hat viele Gesichter. Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist stets das Thema Design. In Frankfurt trifft sich das Who-is-Who der internationalen Kreativszene. Darüber hinaus erhalten Nachwuchsdesigner*innen im Rahmen des renommierten „Talents“-Programms die einmalige Chance, sich einem internationalen Fachpublikum zu präsentieren und erste Kontakte in den Konsumgütermarkt zu knüpfen. Welche Trends haben renommierte Designer*innen mit ihrem professionellen Blick auf der Ambiente 2023 entdeckt? Wir haben die Designer*innen Ross Lovegrove, Ineke Hans und Mark Braun gebeten, ihre Messeeindrücke und Produkthighlights mit uns zu teilen.
Ross Lovegrove: Nachhaltigkeit beginnt mit selektivem Konsum
Ross Lovegrove verbindet in seinen Arbeiten Technologie, Fertigung und Materialwissenschaft mit der Logik der Natur – das repräsentieren seine zahlreichen Publikationen, Projekte mit renommierten Designern und Entwürfe für Marken wie Apple, Sony, Louis Vuitton und Hermes. Typisch für die Handschrift Lovegroves sind organische Formen und Strukturen. Als eines der Jurymitglieder ist der britische Industriedesigner ein bekanntes Gesicht der Fernsehserie ByDesign.

Einen immer größeren Stellenwert nimmt bei den Arbeiten von Lovegrove der ökologische Aspekt ein, der ihm auch im Rückblick auf die Ambiente besonders wichtig ist: „Nachhaltigkeit und die Probleme, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, beginnen mit selektivem Konsum, damit wir nicht blindlings Objekte und Produkte auf der Grundlage niedriger Preise und der Fast-Fashion-Kultur erwerben.“ Daran könne Design entscheidend mitwirken, zeigt sich der Kreative überzeugt: „Design wird immer wertvoller, um den Wert unserer Produkte zu steigern, sei es durch die durchdachte Verwendung von Materialien, durch Innovation in Ästhetik, Nachhaltigkeit, Funktion und Kunst. Wir müssen Produkte entwerfen und herstellen, die geliebt und ein Leben lang behalten werden. Unternehmen wie Alessi, Georg Jensen und Vista Alegre – um nur einige zu nennen – machen das, und sollten damit Vorbildcharakter haben bei der Verschmelzung von Design, Herstellung und Kunst.“


Als eindeutigen Trend macht Lovegrove natürliche Materialien und Formen aus, handwerkliche Fertigung, die Einbindung von Texturen, Licht und Emotionen. „Derzeit wird viel mit neuen Technologien wie dem 3 D-Druck experimentiert, der schöne neue Formen und Qualitäten hervorbringt, die visuell und physisch fühlbar sind. Die Arbeiten der Studierenden, die ich auf der Ambiente gesehen habe, zeigen, dass die jüngere Generation eher nach Einzigartigkeit als nach Massenprodukten sucht.“ Mittels 3-D-Druck stellt auch Cindy Valdez, Gründerin von Migration of Matter und eines der Talents 2023, ihre Keramikkollektionen her. Benannt nach den gleichnamigen Bergen, ist die Vase „Andes“ wellenförmig und spitz zulaufend, wobei kein Winkel den gleichen Anblick bietet. Ebenfalls ein Talent 2023 ist Simon Gehring. Mit seinem Projekt „regrowth“ für das er Restmaterialien der Holzindustrie nutzt, zeigt er wie vergessene Ressourcen ihren Weg zurück in die Industrie und unseren Alltag finden.

Bemerkenswert findet Lovegrove die Neuinterpretation des Wasserkessels, den Michael Graves 1985 für Alessi entworfen hat. 37 Jahre später ist die limitierte Version von Virgil Abloh Securities – entworfen von dem von Abloh gegründeten Studio Alaska Alaska – ist ein ikonografisches Update. „Virgil hat als Außenseiter die Kunst ins Design gebracht, ohne dabei die Funktionalität zu vergessen. Diese exklusive, limitierte Kollektion bringt den frühen Geist von Alessi zurück und fordert den Status quo des geschmackvollen Designs heraus.“
Der Designer zeigt sich beeindruckt von den Anstrengungen und der Kreativität der Aussteller, die den Re-Start der Ambiente entschlossen nutzten. „Die Ambiente ist ein Ort mit wahrer Strahlkraft und bringt damit alle wichtigen Akteur*innen der Konsumgüterbranche zusammen.“
Ineke Hans: Design ist sowohl Problem als auch Lösung für den Klimawandel
Ineke Hans gilt als eine der führenden niederländischen Designer*innen, ihre nachhaltigen Designansätzen finden weltweit Anklang. „Rex“, ihr nachhaltiger Stuhl aus recycelten Kunststoffprodukten, ist der erste ‚Pfandstuhl‘, der bei den niederländischen Circuform-Sammelstellen zurückgegeben werden kann. Somit ist ein geschlossener Produktkreislauf gewährleistet. Hans lehrt als Professorin an der Universität der Künste in Berlin.
Es ist nicht verwunderlich, dass auch Hans die Notwendigkeit, nachhaltige Konsumgüter anzubieten, als das Topthema der Ambiente ausmacht: „Es müssen nicht immer die großen, auffälligen Projekte sein. Vielmehr gibt es viele kleine Dinge, die die Produkte nachhaltiger machen können. Ein gutes Beispiel sind Luftpolsterversandtaschen, die vollständig plastikfrei sind und deshalb viel einfacher recycelt werden können.“ Wobei Hans den vielseitigen Werkstoff Plastik durchaus schätzt. Das Problem sei vielmehr, dass viel zu wenig Plastik recycelt werde. „Aber zum Glück machen sich immer mehr Hersteller Gedanken, welche Rohstoffe sie verwenden und wie sie wiederverwertet werden können.


So hat der argentinische Papierhersteller Ledesma schon in den 1960er Jahren ein „Naturpapier“ entwickelt, das zu 100 Prozent aus Zuckerrohr besteht und ohne Bleichchemikalien hergestellt wird. Zuckerrohr ist eine jährlich wachsende Pflanze, die außerdem CO2 absorbiert“, weiß die Designerin. Positiv merkt sie an, dass auf der Ambiente viele Sonderpräsentationen wie die Ethical Style-Spots das Thema Nachhaltigkeit herausstellen, das so von den Besucher*innen noch besser erfasst werden kann.
Aus 100 Prozent recycelten Materialien stellt die japanische Firma Marna die praktischen Shupatto Falt-Taschen her. Dank des One-Pull-Designs lassen sich die Taschen schnell wieder ganz klein zusammenlegen, so hat man immer eine Einkaufstasche dabei und braucht weder Papier- noch Plastiktragetüten. Auf traditionelle handwerkliche Fertigung setzt das dänische Label Dottir Nordic Design. Herkömmliche Formen und Muster werden zu kleinen Keramik-Kunstwerken neu interpretiert. „Wir dürfen neben der funktionalen Nachhaltigkeit nicht vergessen, unseren Geist mit ‚mentaler Nachhaltigkeit‘ zu pflegen“, sagt Hans. „Und dafür sind diese märchenhaften Objekte wie geschaffen.“
Ausgesprochen spannend findet Hans den neuen Ambiente-Bereich Working. „Rund um das Thema Arbeiten hatten sich in den letzten Jahren schon viele Änderungen angebahnt, aber seit der Corona-Pandemie finden echte Entwicklungen statt. Die Wohnung wurde zum Büro, die Büros werden im Gegenzug wohnlicher. Die Lebensbereiche vermischen sich zunehmend, ein ganzheitlicher Ansatz ist deshalb gefragt. Die Ambiente stellt hier gute Lösungen vor“, so die Designerin.


Mark Braun: Wie nachhaltig ist deine Nachhaltigkeit?
Mit seinem handwerklichen, und nachhaltigen Designansatz hat er es an die Spitze geschafft: Als ehemaliges „Talent“ steht Mark Braun für den Erfolg des Förderprogramms für Nachwuchsdesigner*innen. Seit 2006 betreibt er sein eigenes Designstudio in Berlin und arbeitet für namhafte Firmen wie KPM, Mono, Nomos Glashütte oder Thonet. Mit seinem Lehrstuhl an der HBKsaar engagiert er sich ebenso wie Ineke Hans bei den German Design Graduates aktiv für junge Designer*innen.

Den Re-Start der Ambiente bewertet Braun rundum positiv: „Es ist so wichtig, dass man die Produkte wieder in die Hand nehmen kann und auch der persönliche Kontakt zu den Geschäftspartner*innen ist durch nichts zu ersetzen. Die Messe ist sehr international aufgestellt, sodass man auch viele neue Anbieter entdecken kann. Die Qualität der ausstellenden Firmen ist durchwegs sehr hoch, was die Bedeutung der Ambiente als Leitmesse unterstreicht.“
„Nachhaltigkeit ist das neue Normal“, ist der Designer überzeugt, „und wenn wir alle an einem Strang ziehen, können wir den Wandel zum nachhaltigen Konsum schaffen. Jede*r einzelne muss sich tagtäglich fragen ‚Wie nachhaltig ist meine Nachhaltigkeit?‘. Die neue Beliebtheit von Themen wie Einwecken oder Fermentieren ist genauso auf das Streben nach mehr Nachhaltigkeit zurückzuführen wie alle Konzepte und Produktgruppen, die helfen die Lebensmittelverschwendung zu verringern. Deshalb spielt auch das Thema Aufbewahren eine große Rolle bei den Herstellern.“


Bewusster Konsum wird durch multifunktionale Produkte gefördert. Nachhaltiges Kreislaufdenken stand am Anfang der „Serve+Store“-Serie von Riess. Umweltfreundliche Herstellung durch Wasserkraft, natürliches und recyclebares Material Emaille sowie funktionales Design für aromaneutrale Lebensmittelaufbewahrung. Im Handumdrehen wird aus dem Vorratsbehälter auf dem Tisch eine Butterdose oder die Snackbox für unterwegs. Um die Ressourcen zu schonen hat der französische Porzellanhersteller Revol ein Verfahren entwickelt, seine Industrieabfälle zu recyclen und damit den Verbrauch von Wasser und Mineralien drastisch zu reduzieren. „No.W“ ist die erste Kollektion aus dem patentierten Recyclay®-Material, die vollständig aus wiedergewonnenem Ton hergestellt wird.
Einen weiteren Trend benennt Braun mit dem Stichwort „Produktpflege“. Das heißt, Hersteller setzen nicht nur auf Neuheiten, sondern highlighten ihre Klassiker im Programm, ergänzen sie mit Zusatzartikeln oder präsentieren sie in aktuellen Farben. „Und schließlich sollte das Design in diesen Zeiten nach der Pandemie und mit Krieg in Europa auch Emotionen und Happiness bedienen. Gut gestaltete Produkte können ein angenehmes Zuhause und damit einen ganz persönlichen Schutzraum bilden“, ist Braun überzeugt. Für Glücksgefühle und Nachhaltigkeit im Haushalt fühlt sich das finnische Unternehmen Happy Sinks zuständig – mit Produkten wie der Fliegenfalle „Konna“. Sie hält uns die unerwünschten lästigen Hausgäste – die Fruchtfliegen – vom Leib, macht optisch in der Küche eine gute Figur und ist aus einem neuartigen finnischen Holzverbundstoff gefertigt, der einen geringen CO2-Fußabdruck aufweist.

Titelbild: Simon Gehring/Revol/Shupatto