Double Vision.

„Die Seele eines Restaurants kann man nicht kaufen“, weiß Milica Trajkovska Scheiber, die mit ihrem Mann Matthias Scheiber und exzellenten Küchenteams zwei gefeierte Sterne-Hotspots in Frankfurt zum Leuchten bringt. Wie es dem Ehepaar gelang, Interieurs zu schaffen, die ganz ihrer Emotionalität und ihrem Kunstsinn entsprechen, erzählten sie uns im gemeinsamen Interview mit Ambiente Vice President Nicolette Naumann. Ein Geheimnis ihres Erfolgs liegt im neuen Verständnis von Luxus, so viel sei vorab verraten.

 

Sternstunden

Gustav ist ein typisch deutscher Name. Doch das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant Gustav unweit der Alten Oper ist so gar nicht traditionell und erdenschwer. Vielmehr wird hier mit leichter Hand eine klare und frische Linie zelebriert, die sich in der Architektur aus der detailverliebten Gründerzeit als eine fluide Mischung aus New Vintage-Aura, Bauhaus und organischem Modernismus darstellt. Bodenständige Materialien sind mit edlen gemixt, alles hat hier denselben Status. Statt weißer Tischdecken ziehen wie zu Schneebällen gebauschte Servietten aus hauchdünnem Schlitzer Leinen die Blicke auf sich. Jedes Detail im Gastraum macht neugierig, und manchem, wie ein auf der Tischplatte fest montierter Holzpilz, sitzt der kleine Schalk im Nacken. Zum Wesen dieses einmaligen Gourmet-Refugiums gehört, dass es optisch die Grenzen zwischen Restaurant, Kunstraum und Concept Store verwischt – ein natürliches Kalkül und erstaunliches Gesamterlebnis, das die Handschrift von Milica Trajkovska Scheiber trägt.

Wie entstand dieses einfühlsame Get-together von Interiordesign und Kulinarik?

Milica Trajkovska Scheiber: „Wir haben die Räume in Eigenregie saniert. Als gute Entscheidung erwies sich, mit einer Akustikdämmung aus Tiroler Öko-Schafwolle zu arbeiten, sie hat sich absolut bewährt. Was mich beim Einrichten inspirierte? Ich liebe schöne Dinge und halte immerzu Ausschau nach ihnen, gern auch auf unseren Reisen. Für das Gustav ergatterte ich etwa wunderbare Art-déco-Glaslöffel, die wir als Dekoration verwenden. Wir wählten Konferenzstuhl-Klassiker von Eero Saarinen, auf denen man über Stunden ein hervorragendes Sitzgefühl hat. Alles steht in Korrespondenz mit den Gemälden und Skulpturen, von denen die meisten aus dem Frankfurter Atelier Goldstein stammen, wo international renommierte Künstler mit Handicaps wie Autismus oder Down-Syndrom arbeiten. Das teils Sperrige daran begeistert mich.“

Keine Tischdecken, kein weißes Porzellan, kein Silberbesteck. Sie scheinen Revoluzzer im Fine Dining zu sein.

Matthias Scheiber: „Wir waren tatsächlich unter den ersten, die Tischdecke und Silberbesteck abschafften. So gesehen waren wir Vorreiter. Doch wer weiß, vielleicht gehören wir irgendwann zu den ersten, die beides wieder verwenden, es muss zum Konzept passen. Unser Edelstahl-Besteck entdeckten wir zufällig in einem Pariser Kaufhaus, es ist ein Entwurf des britischen Designers Robert Welch. Es gibt so viele Mythen im Fine Dining, beispielsweise dass weißes Porzellan ein Muss sei. Das ist lange her.“

Matthias Scheiber, Inhaber der Restaurants Gustav und Weinsinn mit Nicolette Naumann, Vice President Ambiente

Ihr Geschirr ist handgetöpfert, ein Statement?

Milica Trajkovska Scheiber: „Zum einen hat es mit unseren Wurzeln zu tun. Meine Großmutter in Mazedonien benutzte immer getöpfertes Geschirr und auch Eisenpfannen, was ich sehr schön fand. Und meine Schwiegermutter betreibt eine kleine Töpferei an der hessischen Bergstraße. Zum anderen ist das, woraus unser Sternekoch Jochim Busch seine Kreationen und Experimente schöpft, dem Ursprünglichen und Regionalem verpflichtet. Fasziniert bin ich von den durch das Bauhaus inspirierten Meisterstücken der legendären Essener Keramikwerkstatt Margarethenhöhe. Die hochgebrannten Stücke sind außerordentlich robust, nichts platzt ab, was für einen Restaurantbetrieb natürlich wichtig ist. Da bewegt sich eine Schale schon mal im dreistelligen Euro-Bereich. Doch diese Investition lohnte sich.“

Jochim Busch: „Ich war mit in der Töpferei als es um Formen und Farben ging und hatte dort die Möglichkeit, die Gestaltung zu beeinflussen, was als Mitarbeiter eines Fine Dining-Restaurants keine Selbstverständlichkeit ist. Im Gustav sind wir Unikat-Geschirr sehr aufgeschlossen, wir haben sogar von einer Künstlerin aus Estland eine Tellerserie, deren Oberfläche wie gebackener Schaum aussieht.“

Diese Frage geht an Sie, Frau Naumann. Andere Länder, andere Geschmäcker – würde das Gustav auch im Ausland so erfolgreich sein?

Nicolette Naumann: „Nach meiner Erfahrung ist man in Europa und Asien offener, sich in der Küche auf eine Erfahrung, die nicht den eigenen Essgewohnheiten entspricht, einzulassen. Im Gustav können Sie beispielsweise Haferwurzeln bekommen, ein Gemüse, das vor einhundert Jahren hierzulande noch jedem geläufig war. So gesehen, wäre das Gustav in Tokio vermutlich erfolgreicher als etwa in New York. Das leicht Kontemplative, welches hier beim Essen zelebriert wird, findet in asiatischen Metropolen eher Resonanz. Allerdings hätte das Gustav nach dortigem Standard zu wenige Teller. In Japan werden für jede Jahreszeit andere Teller verwendet, was mit dem hohen Stellenwert der Jahreszeiten in der Kultur des Landes zu tun hat. Auch müssen Teller nicht zwangsläufig aus einer Serie stammen, etwas, was in Deutschland noch wenig zu finden ist.“

Jochim Busch, Küchenchef im Restaurant Gustav

Matthias Scheiber: „Das deckt sich mit unseren Erfahrungen. Wir beobachten, dass asiatische Gäste eine größere Resonanz zu unserm Essen empfinden als beispielsweise Besucher aus den USA. Es kam schon vor, dass Japaner fragten, ob wir häufiger in Asien seien, da unsere Zutaten so ‚feinfühlig‘ sind. Für jeden Gast gilt, er muss sich einlassen. Jeder Teller ist stark, wir haben eine ehrliche Küche, das ist unser Credo.“

Milica Trajkovska Scheiber: „Interessanterweise hat das Gustav mit unserem Restaurant Weinsinn, für das wir 2017 ein neues Domizil im Frankfurter Bahnhofsviertel fanden, eine relativ kleine Schnittmenge hinsichtlich der Gästestruktur. Es gibt große Fans hier wie dort, aber kaum Überschneidungen.“

Milica Trajkovska Scheiber, Inhaberin der Restaurants Gustav und Weinsinn

Glanzgestalten

Wir glauben einen wesentlichen Grund für die unterschiedlichen Fangemeinden zu kennen. Beide Restaurants sind erlesene Solitärs und jedes steht wie ein fehlendes Puzzlestück genau am richtigen Platz. Zwei vom selben Planeten, aber von anderen Sternen – sprich, im Weinsinn wirkt ein anderer hochdekorierter Küchenkünstler mit seinem Team. Die offene Küche, die handwerklich-kreative Karte, mit der sich Julian Stowasser gleich nach Antritt einen Michelin Stern erkochte, und das puritisch-urbane Design in den 400 Quadratmeter großen Räumen, die auch ein Mega-Kunstloft in New York sein könnten – hier kommt der Gast in einem anderen Kosmos an. Auch das Quartier, wo sich das Weinsinn als edle Esskultur-Location etabliert hat, unterscheidet sich vom Rest der Stadt – ein pralles Leben zwischen Szene-Kiez, Künstlerateliers, Rotlicht und Kultkneipen.

Ortswechsel. Ganz schön chic im Sternerestaurant, das auf den Namen Weinsinn hört. Ihr Eindruck, Frau Naumann?

Nicolette Naumann: „Trotz seiner Großzügigkeit und der hohen Decken wirkt das Restaurant sehr intim. Auf den ersten Blick hat es etwas von einem Wohnzimmer. Wie im Gustav spielt zeitgenössische Kunst eine Rolle, aber auch die hohe Qualität der Möbel fällt sofort auf. Schauen Sie, allein die Konferenzstühle nach einem Entwurf des französischen Architekten und Designers Jean Prouvé aus den 1950er Jahren, zeigen, wie sehr man hier auf hochgradige Funktionalität gepaart mit einer angenehmen Nutzung achtet.“

Da wächst ja ein „Baum“ im Raum, Frau Trajkovska Scheiber! Wohin führen seine Wurzeln?

Milica Trajkovska Scheiber: „Die Baumskulptur von Anselm Baumann zieht sich über zwei Stockwerke durch das Haus, das einmal ein Bürogebäude war. Der ‚Baum‘ verbindet gleichsam Ober- und Untergeschoss, wo wir noch einen weiteren Veranstaltungsraum haben. Der einjährige Umbau war definitiv die größere Herausforderung als das bei Gustav der Fall war. So wusste ich gleich, hier brauchen wir ein LED-Lichtdesign aus Profi-Hand. Aus vielen kleinen Büros wurde der große Gastraum geschaffen, die Fenster nach altem Vorbild ersetzt und ein neuer, repräsentativer Eingang geschaffen. Auch musste der Boden abgetragen und neu gegossen werden. Und unentbehrlich fanden wir den fabelhaften Schallschutz aus Öko-Schafwolle.“

Und dazu wiederum eine fein kuratierte Auswahl an Keypieces.

Milica Trajkovska Scheiber: „Was ich besonders liebe, sind die böhmischen Art-déco-Vasen und die grünen Wassergläser aus Murano-Glas, alles kleine Kostbarkeiten. Die Manufaktur-Gläser haben mein Mann und ich während eines Besuchs der Biennale in Venedig entdeckt und gleich für unser Restaurant geordert. Die Biennale ist die schönste Pflicht und Kür für uns, wir sind immer dort. Denn an jeder Ecke bekommt man neue Impulse, grandios.“

„Glas ist nicht gleich Glas“, merkt Matthias Scheiber noch an: „Aus mundgeblasenen Gläsern schmeckt Wein besser, was physikalisch nicht zu erklären ist.“ Dieses Phänomen kennt Nicolette Naumann auch bei einem anderen Getränk: „Sogar bei Whiskey schmeckt man, ob ein Glas mundgeblasen ist oder ein Industrieglas ist. Das funktioniert selbst bei der Blindverkostung.“ Ähnliches dürfte dann ebenso für Geschirr gelten – das Auge ist tatsächlich mit und die Haptik des Tellers übermittelt dem Gehirn subtile Geschmacksbotschaften. Apropos Geschmackserlebnis. Gäste schätzen im Weinsinn eine Karte, die Traditionelles wie etwa Spätzle oder Schweinebauch präsentiert, um dann auf den Flügeln von Erinnerungen, vielleicht aus der eigenen Kindheit, eine völlig neue, sensationelle Punktladung zu liefern. Der junge Sternekoch Julian Stowasser weiß um die Kraft solcher Glücksgefühle: „Schweinsbraten, der herrliche Sonntagsbraten im Römertopf meiner Eltern, dazu Kartoffelknödel. Das vergisst man nicht.“ Ihm sind übrigens schlichte Teller die liebsten, wie ein Maler, der zunächst eine weiße Leinwand vor sich hat.

Hinterm Horizont geht’s weiter – ein neuer Luxus

In die Runde gefragt, was bedeutet heute Luxus? Haben wir inzwischen nicht eine neue Sichtweise auf den wahren Luxus, gerade im Fine Dining?

Nicolette Naumann: „Hier muss man zunächst kerneuropäischen und internationalen Luxusbegriff unterscheiden. In China, Dubai und Moskau wird mit Luxus in der Regel noch viel Opulenz verbunden. In Kerneuropa geht der Luxusbegriff mehr in Richtung Nachhaltigkeit und Wertigkeit. Produkte werden immer stärker dahingehend entwickelt. Im Zuge dessen gibt es eine große Rückbindung an das Kunsthandwerk. Außerdem ist der theoretisch-philosophische Ansatz der Küche und des Fine Dining wieder stärker präsent. Sternerestaurants wie das Gustav und das Weinsinn spielen den sorgfältigen Umgang mit Lebensmitteln sowie alte Gemüsesorten und Verarbeitungstechniken wie etwa das Fermentieren als zeitgemäße Stärke aus. Denn Luxus umfasst zunehmend die Dimension von Wertschätzung, Ursprünglichkeit und Naturnähe. Diese gastronomischen Trends machen sich auf der Ambiente bemerkbar und sind dort konzentriert für HoReCa erfahrbar. In 2020 ist der Dining-Bereich erstmals um eine eigene Hallenebene für Aussteller der Hotel-, Restaurant- und Catering-Branche erweitert, womit die Ambiente ihre Position als wichtiger internationaler HoReCa-Handelsplatz unterstreicht.“

Julian Stowasser, Küchenchef im Restaurant Weinsinn

Matthias Scheiber: „Für uns ist der größte und wahre Luxus die Zeit – und zwar die, die wir für den Gast haben. Wir nehmen uns die Zeit, Lebensmittel zu schmecken, zu probieren und Menüs zu entwickeln. Wie auf einer Bühne, entfaltet sich dieser Luxus jeden Tag neu. Vom Gast kommt die Wertschätzung des Tellers zurück, manche bedanken sich stilvoll mit handgeschriebenen Briefen für den tollen Abend bei uns. Für mich persönlich hat Luxus mit Freiheit zu tun. Meine Frau und ich haben in der Vergangenheit oft Entscheidungen getroffen, die sich erst langfristig auszahlen.“

Milica Trajkovska Scheiber: „Im Herbst erscheint unser ‚Gustav-Buch‘ in einer Auflage von 400 Stück. Keine Fotos, sondern mit Illustrationen einer Leipziger Künstlerin, die bei Neo Rauch studiert hat. Wir werden damit sicher kein Geld verdienen, es ist eben unser ‚Luxus‘, den wir wollen, da er uns gefällt. Wo wir uns in fünf Jahren sehen? Noch geht unser Mietvertrag für das Gustav einige Jahre. Wir könnten uns aber vorstellen, eines Tages ein Bed & Breakfast zu eröffnen.“

Luxus liegt demnach im Erlebbaren und in der Wertschätzung des Echten und Wahren. Restaurants leben den neuen westlichen Luxusbegriff vor mit der exklusiven Verarbeitung guter Lebensmittel und dem Genuss von Zeit. Gefragt sind individuelle Produkte und Keypieces im Gastraum, die Geschichten erzählen und Kennerschaft beweisen. Was hierbei die junge internationale Kunsthandwerker-Avantgarde an Produktideen liefern kann, wird auf der Ambiente 2020 im Dining Talents-Areal zu sehen sein, wo diesmal handwerkliche Herstellungsweisen und smarte, zu künftigen Lebensstilen passende Entwürfe im Fokus stehen.

Wir sagen herzlichen Dank für den Blick hinter die Kulissen und das inspirierende Interview!